Jetzt ist dafür eine gute Zeit. Ein Gespräch mit Silke Koch über Auswanderung, Kunst und hybride (Nachwende)Kultur.

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Edit: Anna Voswinckel und Silke Koch (2021)
Lektorat: Anna-Lena Wenzel (2021)

Anna Voswinckel:  Erzähl doch noch mal wie es zu der Arbeit New Leipzig kam, wie die Idee für diese Fotoserie entstand, der Impuls in diese Stadt in den USA zu reisen.

Silke Koch: Ich habe Anfang 2000 in einem Bericht in der Leipziger Volkszeitung gelesen, dass Investoren gesucht werden in Leipzig für eine Stadt irgendwo in den USA, die New Leipzig heißt.Die Volkszeitung berichtete weiter, dass die Gäste aus dem amerikanischen New Leipzig, die ins deutsche Leipzig kamen, feststellen mussten, dass die Stadt noch in so einem Zustand ist, dass sie selbst Unterstützung bräuchte. Die New Leipziger haben also – neben der Kontaktaufnahme – letztendlich nicht viel für sich ausrichten können. 
Ich fand diese Geschichte interessant. Es gibt noch mal einen Ort, der genauso heißt wie die Heimatstadt und dieses „New“ davor suggeriert ja auch, dass etwas neu ist. 
Ich bin kurz vor dem Mauerfall von Leipzig über Ungarn abgehauen, im August ´89 mit einem Ungarn-Visum. Abgehauen nenne ich es. Heute würde man es als Auswandern beschreiben. Ich bin in Hannover gelandet und musste feststellen, dass zwar in beiden Staaten, sowohl in dem demokratisch organisierten als auch in dem ehemalig zentralistisch organisierten, Deutsch gesprochen wird, aber die Inhalte der Worte ganz andere Zuschreibungen haben. 
2003 habe ich ein Reisestipendium für New York bekommen und habe den Ort zum ersten Mal besucht. Ich bin von New York nach Bismarck geflogen, die Hauptstadt von North Dakota. Ich war zehn Tage in New Leipzig und habe die ersten Eindrücke gesammelt. Sie haben ein Oktoberfest gefeiert und ich habe mir die Architektur angeguckt, an jedem Gebäude die Ortsbezeichnung. New Leipzig ist ein kleiner Ort mit 200 Einwohner*innen und fünf Kirchen. Ich war so beschäftigt damit, Erfahrungen aufzunehmen, dass die künstlerische Umsetzung zunächst noch nicht so im Fokus stand. Eine kleine Arbeit ist daraus entstanden, die für die Zeit damals ganz ansprechend war. Fotografien mit einem kurzen, vorerst deutschen Text. Da ich nie Englisch in der Schule gehabt habe, sondern nur Französisch und natürlich jahrelang Russisch, war mein Englisch nicht gut und so habe ich den Text von Google übersetzen lassen. Damals war die Google-Übersetzung noch ein Kauderwelsch und das entsprach im Grunde genommen auch diesem Traditions-/Sprach-/Gesellschaftsbruch vor Ort.  So habe ich die Fotografien und die englischen Textfragmente zu einer Arbeit vereint.
Ich war neugierig als Leipzigerin zu schauen: Wie haben das die New Leipziger gemacht und was kann ich mir sowohl künstlerisch als auch als Erfahrung mitnehmen: Jetzt haben wir nachdem Fall der Mauer, der politischen Wende, die Möglichkeit etwas zu verändern, etwas neu zu machen und zu schauen wie das die damaligen Ausgewanderten gemacht haben – in dem Glauben, dass die New Leipzig-Begründer auch aus Leipzig kamen (was sich im Nachhinein jedoch als ganz anders herausgestellt hat). 2005 bin ich nochmals nach New Leipzig gereist, um die 11-teilige Fotoserie und das Video New Leipzig Home Of Oktoberfest und eine Mapflag (Grundriss von North Dakota als deutsch/amerikanische Flagge überzeichnet) zu machen.

Anna Voswinckel: Als du vorhin gesagt hast, dass die Sprache in BRD und DDR unterschiedlich war: Wie meintest du das?

Silke Koch: In der BRD habe ich angefangen, Abitur zu machen, was ich zur DDR-Zeit nicht konnte, weil das gesellschaftliche System und die Förderung eine andere war. Das sogenannte Trichter-System in der DDR erlaubte nur wenigen Schüler*innen Abitur zu machen. Aus jeder Klasse vielleicht zwei, drei von 30 Schüler*innen. In der Bundesrepublik war es so, dass relativ viele Abitur machen konnten, ohne dass man unbedingt studieren musste. Es gab unwahrscheinlich viele Hochschulabgänger*innen. Die DDR hat nur so viele zugelassen wie sie auch wirklich Akademiker*innen brauchte im Arbeiter- und Bauernstaat. Also da war die Priorisierung eine Andere. 
Also, ich habe dann mit dem Abitur angefangen und zum Beispiel die russische Revolution im Geschichtskurs gehabt. Dort tauchten plötzlich ganz andere Namen auf, wie Trotzki, der zu DDR-Zeit nicht benannt worden ist. 
Kurz bevor ich im August ´89 in den Westen abgehauen bin, war ich in der Sowjetunion und habe mir eine Fotoausstellung angeschaut, wo Negative perfekt retuschiert wurden in einer Art und Weise wie man das heute mit Photoshop machen kann. Die haben vom Großbildnegativ Menschen aus einer Menschengruppe komplett raus retuschiert. Eben auch einen Trotzki oder andere politische Figuren. Unter dem Begriff Oktoberrevolution habe ich in der DDR eine ganz andere Geschichtsauffassung vermittelt bekommen, als mir dann mit dem Abitur in der Bundesrepublik nochmal gelehrt wurde. Oder: Ich habe neben dem Abitur in einem kleinen Café angefangen zu arbeiten und meine erste Bestellung, die ich aufgenommen habe, war „einmal Tortellini Carbonara und ein Spezi“. Das einzige was ich verstanden habe, war „und ein“. Oft habe ich dann in Lautschrift die Bestellungen notiert und bin so zu meinen Kolleg*innen. Ich wusste weder was Tortellini sind, noch was ein Spezi ist. Oder ich wollte einen Personalausweis beantragen. Das hat man früher bei uns bei der Polizei gemacht und dort geht es übers Ordnungsamt. Wo beantragt man eine Wohnung? Ausweise? Ich habe Deutsch Leistungskurs gehabt, hatte aber ein ganz anderes literarisches Wissen, habe andere Bücher gelesen, andere Schriftsteller*innen und damit gab es irgendwie auch keine kulturellen Überschneidungen auch nicht über bestimmte Begrifflichkeiten. Es war eine Irritation, die einen ein Stück weit erst mal den Boden unter den Füßen nimmt. Und man, also ich, habe in den ersten Jahren im Westen mehr beobachtet und vorerst funktioniert.

Anna Voswinckel:  Man kann es ja auch als Zugewinn sehen: dass man als Ostdeutsche Sprache dazugewonnen hat und als Westdeutsche dagegen kaum. Ich habe mal gelesen, dass Ostdeutsche nach der Wende durchschnittlich 5000 neue Wörter in ihren Wortschatz integriert haben und Westdeutsche nur ein Zehntel davon.

Silke Koch: Und für mich war das auch interessant. Deshalb bin ich auch dann als Berufsentscheidung wirklich in die bildende Kunst gegangen: ich wollte mir das Neue erschließen. Ich hatte im Abitur Kunst als Prüfungsfach. Ich habe Fotografie gewählt und bin nach Leipzig gefahren um dort Sachen zu fotografieren, die mir in Hannover aufgefallen sind die fehlten. Es gab zum Beispiel keine Kinder in Hinterhöfen, die gespielt haben. Die Kinder wurden auf die Spielplätze immer von den Eltern begleitet. Wir haben als Kinder in den Hinterhöfen ohne Aufsicht gespielt. Ich wollte das, was mir aufgefallen ist, was diesen Unterschied ausmacht fotografisch festhalten. Oder Kohlenmänner – habe ich in Hannover keine gesehen; die prägten das Bild in Leipzig sehr deutlich in den 90er Jahren. Ich habe in den ersten Studienjahren jedoch schnell bemerkt, dass ich das Alte nicht mehr brauche, um Neues zu erzählen, und ich habe mir dann lieber Neues erschlossen. Zum Beispiel wurde in der Zeit ja sehr viel auf der grünen Wiese gebaut, wie Möbelhäuser, Baumärkte ohne Gebrauchsspuren, ohne Geschichte. Das Neue habe ich fotografiert, um es in meine Erfahrungswelt, aber auch in die künstlerische Arbeit zu integrieren.

Anna Voswinckel: Das Thema des Exils oder der Diaspora hat ja in dem New Leipzig-Projekt auch eine Rolle gespielt – wie sich Kultur transportiert in ein anderes Land, in ein anderes System.

Silke Koch: Dafür ist die Arbeit New Leipzig – Home auf Oktoberfest ein ganz schönes Beispiel. Sie besteht aus den immer gleichen Fragen, die mehreren Beteiligten gestellt wurden. Da gab es z.B. drei Männer, die sich zum Kaffee im Leipziger Hof trafen. Was ist das Oktoberfest? Was findet da statt? Wann und warum? Was zieht ihr an? Was esst ihr?  Glaubt ihr, dass es ein Oktoberfest in Leipzig Germany gibt? Die Antworten waren überraschend und frei von traditionellen Vorstellungen. Man zieht an, was man mag, hört Musik die man mag, will kein Bierfest, feiert alle vier Jahre im Juli und weiß nicht, dass es ein Oktoberfest in Leipzig Germany gibt. In diesen Gesprächen kam auch heraus, dass Russlanddeutsche den Ort New Leipzig begründet haben, aber nicht als New Leipzig, sondern als Old Leipzig. Der Ort wurde ca.1900 gegründet und zwölf Jahre später einige Meilen südlich an die neue Eisenbahnstrecke umgesiedelt. Daraufhin hat man ihn von Old Leipzig in New Leipzig benannt. Es gibt eine Chronik, die aufgezeichnet hat, dass über die Namensbezeichnung von den Bürgern abgestimmt wurde. Man hat sich sehr an Europa orientiert wegen der Repräsentation. Wien war im Gespräch und andere Städte. Leipzig hat man ausgewählt, da sie als Pelz- und Messestadt schon damals sehr bekannt war. Die Russland-Deutschen sind ja vorwiegend Schwaben gewesen, die auf Einladung der Sächsin Katharina der Großen nach der großen Hungersnot 1848 nach Russland ausgewandert sind. Von da aus sind sie weiter nach Amerika gezogen und haben eine deutsch-russisch Identität mitgebracht. Dabei blieb ihre Frage: „Was sind wir eigentlich? Wir sind keine Russen, wir sind keine Deutschen und wir sind auch keine Amerikaner. Welcher Identität fühlen wir uns zugehörig?“ Und das ist ja ein Thema, was mit dem Fall der Mauer auch auf meine Generation zugetroffen hat. Insofern fand ich dieses Freisein von Regeln und Traditionen beim New Leipziger Oktoberfest interessant.

Anna Voswinckel: War dir damals schon klar, dass dich das interessiert: das Thema der hybriden Identität, das Nicht-festlegen-können von Identität?

Silke Koch: Nein, ich habe nur gemerkt, dass es Themen in meinem Leben gibt, die ich nicht über Lesen oder Erfahrungen alleine für mich befriedigend beantworten kann. Ein Thema meiner Generation. Da hilft mir die Kunst, mich zu sortieren. Es ist oft eine größere Sammlung, sowohl an Gedanken als auch an Material, was ich zusammen trage und über die Ausarbeitung und Klärung zu einem Punkt bringe, um es in Ausstellungen andere zum Erfahrungsaustausch anzubieten. Mein Professor, Joachim Brohm, hat mir nicht viele Fragen zu Beginn des Studiums gestellt, aber eine war: „Silke, was hält Ihre Arbeiten zusammen?“ Damals konnte ich ihm die Frage noch nicht beantworten. Ein anderer Professor, Dieter Daniels, hat zu mir gesagt und ich weiß nicht, ob er das als Kompliment gemeint hat: „Silke, mit Ihnen könnte man eine Gruppenausstellung machen.“ Beides war für mich total fruchtbar und hat mich auf den roten Faden meines Interesses finden lassen. Aber es gibt keine Festlegung in der Technik. Wie kann ich das Thema am besten transportieren? Dabei finde ich manchmal die Fotografie zu zweidimensional und bediene mich dann gern der Skulptur, der Ton Installation – also Interviews oder Filmzitate, Rauminstallationen, die immer wieder Fragen offen lassen. Genauso wie in der Fotografie – ist es eine Dokumentation oder eine Fiktion? Oder eben auch die Intervention im öffentlichen Raum, wo ich zum Beispiel in Bonn am Beethoven-Denkmal den Geburtsort von Beethoven hinterfrage. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis, dass Beethoven in Bonn geboren ist. Nur das Taufdatum und der Ort sind belegt.

Anna Voswinckel: Das ist doch ein roter Faden, der sich durch deine Arbeit zieht!

Silke Koch: Ja, aber das hat sich durch das Interesse ergeben, was ich vorher noch nicht so bestimmen konnte. Was beschäftigt mich, was lässt mich nicht los? Und es ist nicht so, dass ich mich hingesetzt hätte und mir ein Konzept aufgeschrieben habe: Mich interessiert die Hinterfragung kultureller gesellschaftlicher Identität. Das hat sich Schritt für Schritt innerhalb des Arbeitens, erst national dann international, ergeben.

Anna Voswinckel: Was denkst du, welche Rolle die Ausbildung an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig für deine künstlerische Entwicklung gespielt hat? Du hast ja in den 1990er Jahren angefangen zu studieren, als sich die künstlerische Ausrichtung der Fotografielehre verändert hat, neue Einflüsse kamen, u.a. die US-amerikanische Strömung der „New Topographics“, die man ja in der New Leipzig-Serie auch als Vorbild wiederfindet. Hat dich das, was du gelehrt bekommen hast damals an der Hochschule in deiner Arbeit beeinflusst? Spielte die zu DDR-Zeiten gelehrte sozialdokumentarische Fotografie für dich noch eine Rolle?

Silke Koch: Als ich angefangen habe, 1993, gab es mit Timm Rautert, Joachim Brohm und auch Astrid Klein die Professoren*innen „aus dem Westen“, die neue fotografische Positionen vertraten. Ich kann das gar nicht beschreiben, aber intuitiv habe ich mich dafür interessiert, was neu für mich ist. Viele von uns hatten zu DDR-Zeiten Fotografie als Hobby betrieben, mit dem Fotovergrößerer in der Küche. Das hat mich nicht so interessiert, mit der Professorenwahl von Joachim Brohm bekam ich die Möglichkeit, mir neue Bildwelten und Erzählweisen zu erschließen. Im Grundstudium hatten wir viele Workshops mit Gästen. Michael Schmidt war zum Beispiel da, Martin Parr, Nan Goldin oder eben Louis Baltz. Viele weitere amerikanische Positionen der „New Topographics“ wurden vorgestellt. Mir hat diese Art der Fotografie die Möglichkeit gelassen, die Betrachtenden mehr einzubeziehen. Sie ist eine aus meiner Sicht zurückhaltende Fotografie, die zwischen Fiktion und Dokumentation liegt. In meinen Arbeiten kommt das Porträt sehr selten vor, mich interessiert der öffentliche Raum, als Ort gesellschaftlicher Repräsentation. Den finde ich in der zurückhaltenden Art und Weise spannender im Mittelformat zu fotografieren. Ich beobachte aus der Distanz und lasse es auf andere so wirken, dass sie sich damit identifizieren können – oder auch nicht. Also Auseinandersetzung, egal in welche Richtung es geht.

Anna Voswinckel: Die Identifikation als Ostdeutsche, die überwiegend jüngere Künstler*innen der sogenannten 3. Generation Ost seit einigen Jahren stark machen – wie siehst du das?

Silke Koch: Das müsste man konkret machen. An Künstler*innen-Beispielen. Ich denke, dass es generell die Jugend ist, die nach Spuren sucht, nach Identifikation, so auch innerhalb der Kunst. Der Wunsch nach einem Alleinstellungsmerkmal oder ein Merkmal, wo man sagt: „Das ist der Künstler, der …“. Das ist auf der einen Seite gut und wichtig, weil es Orientierung braucht und den Anspruch gibt, Besonderheiten heraus zu stellen. Es ist aber auch Behauptung. Wir haben das bei der „New Leipzig School“ das Phänomen, dass die Künstler, die mit der „New Leipzig School“ assoziiert werden, weder im Osten geboren sind, noch sich als ostdeutsche Künstler beschreiben. Manchmal finde ich es in Biografien, die haben nie an der HGB studiert. Und trotzdem finde ich es gut, dass immer wieder Fragen zu ostdeutschen Biografien und Identitäten gestellt werden.

Anna Voswinckel: Und was hältst du von dem Vergleich zur Migrationserfahrung? Ostdeutsche, die vor der Wende in der DDR gelebt haben, machten die Erfahrung dass das Land, in dem sie aufgewachsen waren, nach dem Anschluss an die Bundesrepublik nicht mehr existierte. Findest du den Vergleich fruchtbar? Kannst du für dich daraus irgendwas ziehen?

Silke Koch: Das ist eine interessante Frage, die mir auch schon gestellt wurde. Als ich in New York war, habe ich mich auf eine Ausstellung beworben und wurde in umfangreichen Bewerbungsbögen zu meiner Zugehörigkeit und meinem Migrationshintergrund befragt. Auch bei anderen Stipendien wird man dazu befragt. In den ersten Jahren in Hannover hatte ich das Gefühl, ich kann auf nichts Vertrautes zurückgreifen. Es ist wie aus einem fremden Kontext zu kommen und sich in einen anderen Kontext einzufühlen, einzuleben. Ja, es gibt da eine Vergleichbarkeit. Wenn man 25 Jahre in einem System sozialisiert ist, die wichtigsten Jahre, und danach in ein neues politisches System kommt … manche Sachen sind mir heute noch unvertraut.

Anna Voswinckel: Was ich interessant finde an den Forschungsergebnissen von Naika Foroutan, einer deutschen Soziologin, die die Migrationserfahrung von Ostdeutschen und Migrantinnen aus muslimischen Ländern in der Bundesrepublik verglichen hat, ist die Übereinstimmung in der Form der „Nicht-Anerkennung“ dieser anderen Erfahrungen seitens der Mehrheitsgesellschaft.

Silke Koch: Ja, man hatte nicht das Gefühl, dass den DDR-Bürger mit ihren Erfahrungen und Biografien auf Augenhöhe begegnet. Ich kenne das mehrfach aus meinem Umfeld und habe es im Westen selber erlebt. Ich hatte, bevor ich in den Westen geflohen bin, zwei Berufsausbildungen und beide haben in der BRD überhaupt keine Anerkennung gefunden, obwohl man mich als Menschen nicht kannte und die Schulzeugnisse hervorragend waren.

Anna Voswinckel: Welche Berufe waren das?

Silke Koch: Ich bin als Kindergärtnerin ausgebildet worden und habe in diesem Beruf drei Jahren gearbeitet. In der ehemaligen DDR ist das ein Fachschulstudium mit Berufserfahrung. In Hannover hatte man von mir ein weiteres Jahr der Berufsanerkennung gefordert. Kindergärtnerin war nicht der richtige Beruf zu DDR-Zeiten für mich. So hatte ich bereits in Leipzig Korbmacherin gelernt und gearbeitet. Aber dieses Handwerk war nicht gesucht. Zu DDR-Zeiten hätte ich nie einen Platz bekommen, um Kunst zu studieren. Mich hat auch die damalige Ästhetik nicht angesprochen, dass ich mich als Künstlerin hätte berufen gefühlt.

Anna Voswinckel: Was war der Grund, warum du keinen Platz gefunden hättest? Weil du dich nicht klar auf Malerei oder eine andere Technik bezogen hast?

Silke Koch: Nein. In meinem familiären Umfeld waren keine Künstler. Also ich kam mit der Kunst im Grunde genommen erst spät in Kontakt. Darüber hinaus war der Zugang zum Studium extrem begrenzt: Fünf Leute konnten in jedem Studiengang pro Jahr studieren und von diesen fünf waren auch noch zwei Plätze an die sozialistischen Bruderländer vergeben – in einem Land mit 17 Millionen Einwohner*innen und zwei, drei Kunsthochschulen im ganzen Land! Genau wie mit dem Abitur und dem Trichter: Drei pro Studienjahr auf 17 Millionen.

Anna Voswinckel: Wie wurden Kunststudierende ausgewählt? Was gab es für Kriterien?

Silke Koch: Einige sind sehr lange zur Abendschule, ein Vorstudium der Kunsthochschule, gegangen. Es gab Leute, die in einem künstlerischen Umfeld waren und frühzeitig die Zugänge kannten. Ich habe durch meinen ersten Freund immer mal Modell gestanden, aber im Zeichnen liegt nicht meine künstlerische Ader. Da bietet die Fotografie mir mehr Möglichkeiten. Über die Auswahlkriterien weiß ich zu wenig. Das könnte man Tina Bara fragen.

Anna Voswinckel: Tina Bara hat ja auch zuerst Geschichte studiert, später erst Fotografie an der HGB.

Silke Koch: Ja, aber sie war in Berlin schon länger im künstlerischen Dunstkreis unterwegs gewesen.

Anna Voswinckel: Es ist ja nach wie vor so dass Kunst ein Elitestudium ist – heute braucht man einen sicheren finanziellen Background um sich die künstlerische Karriere leisten zu können.

Silke Koch: Ja, man braucht diesen finanziellen Background. Die HGB Leipzig hat ja auch in den 90ern dann plötzlich eine Bewerbungsflut erlebt wie nie zuvor. Plötzlich wurden 17 Leute aufgenommen pro Studienjahr im Vergleich zu fünf. Und plötzlich haben sich 600 Leute beworben, diese Art der der Bewerbungsflut war neu.

Anna Voswinckel: Aber es gab dann auch mehr Professuren, oder?

Silke Koch: Das weiß ich nicht. Wie gesagt, für mich war die bildende Kunst als Akteurin weit weg –  ein Buch, was ich nicht getraut habe aufzuschlagen. Ich bin zwar zu Kunstausstellungen wie der 10. Kunstausstellung der DDR gegangen, aber ich habe mit diesen Arbeiten nicht viel anfangen können. Die hatten nichts mit meiner Ästhetik und wenig mit meinem Leben zu tun. Auf der anderen Seite war es so, dass DDR-Künstler*innen von ihren Arbeiten leben konnten und ein Auskommen hatten. Das ist in der heutigen Gesellschaft ja überwiegend nicht der Fall. Da sprechen wir ja von drei bis fünf Prozent, die von ihren Arbeiten leben können.

Anna Voswinckel: Ja, es gab damals viel mehr Aufträge, auch von staatlicher Seite an Künstler*innen.

Silke Koch: Genau. Und auch dadurch, dass es insgesamt viel weniger Künstler*innen gab, konnten die wenigen eben auch das, was gebraucht wurde, besser bewältigen und ihren Lebensunterhalt bestreiten über Aufträge und Verkäufe. Das Leben hat ja damals nicht viel gekostet. Heute braucht man ja, um die normalen Lebenshaltungskosten abzudecken, ganz andere Aufwendungen. Ziemlich viele Unterschiede.

Anna Voswinckel: Was ich rausgehört habe, ist, dass es dir eigentlich erst durch die Wende und Wiedervereinigung möglich geworden ist Kunst zu studieren, richtig?

Silke Koch: Genau. Wir mussten mit 16 Jahren über unseren beruflichen Weg entscheiden. Zu DDR-Zeiten studierte man nur einmal und das war verbindlich. Aber wie gesagt, es wäre mir auch nicht in den Sinn gekommen, weil die Themen und die Ästhetik überhaupt nicht in meinem Interessengebiet lagen. Da sind mit der Wende zwei glückliche Momente zusammengekommen: die Öffnung, dass mehr Studierende aufgenommen wurden, und dass sich der Blickwinkel. die Themen und die Ästhetik geöffnet haben und es viele neue Möglichkeit des „zweiten Bildungsweges“ gab. Ich hatte kein Abitur.

Anna Voswinckel: Wie siehst du das Wiederaufleben von „DDR-Staatskunst“ in den letzten Jahren; die Barberini Ausstellungen in Potsdam z.B.; oder dass Werke wieder in die Museen gehängt werden, die vorher in den Depots verschwunden waren?

Silke Koch: Das betrifft ja nicht nur die DDR-Kunst. Für jede Form von gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Statements bedarf es der Auseinandersetzung. Es bringt ja nichts, bestimmte Sachen wegzulassen, sondern sie sind eben da gewesen. Und es bedarf der öffentlichen Diskussion. Ich würde eher fragen: Warum baut man ein Schloss wieder auf und reißt den Palast der Republik ab? Ich finde es wichtig, sich mit allen geschichtlichen Ereignissen öffentlich auseinanderzusetzen und sie nicht weg zu schließen. Wenn sie weggeschlossen werden ist es ein politisches Statement.

Anna Voswinckel: Du hast ja vorhin beschrieben dass diese Art von Kunst, die du in der DDR erlebt hast, für dich bzw. für deine künstlerische Arbeit gar nicht richtungsweisend war. Das ist ja für mich als Westdeutsche erst nachvollziehbar, wenn ich die Kunst auch mal selbst zu sehen bekomme.

Silke Koch: Ich habe mich damit nicht identifizieren können, das stimmt. Dadurch dass so ein großer zeitlicher Abstand da ist, findet meines Erachtens eine Neubewertung statt. Und ich glaube, ich würde auf diese Arbeiten heute anders schauen können als damals. Auch deswegen ist es gut. dass die Depots aufgehen. Es ist wichtig, dass nichts wegkommt. Nicht jede Arbeit ist eine künstlerische Offenbarung, aber sie spiegeln in jedem Fall einen Ausschnitt des gesellschaftlichen Zeitgeistes wider und sind etwas, worüber sich die Auseinandersetzung und Diskussion lohnt. Auch darüber, was da zu sehen ist und was an anderer Seite überhaupt nicht zu sehen war. Wir hatten an der HGB mal die Projektgruppe „Dock“. Da sprach Alexander Koch immer von „wir“ und von Konzeptkunst. Und Alexander Koch kommt meines Erachtens aus dem Rheinland. Und dann habe ich gefragt: „Alexander, ich weiß nicht, auf welches ‚wir‘ du dich beziehst. Ich kann dir nicht sagen, ob es zu DDR-Zeiten eine Konzeptkunst gegeben hat.“ Das habe ich im Studium oft gemerkt, dass ein „Wir“ thematisiert wird, was nicht mein „Wir“ ist. Das wurde glücklicherweise als Anregung aufgenommen und gefragt. „Gab es denn zu DDR-Zeiten Konzeptkunst?“ Ein Ergebnis der Recherche war die eine Gruppe namens Clara Mosch aus dem Chemnitzer Raum, die sich damit beschäftigt hat. Wo ist dieses Wissen, sind die Arbeiten heute? Kurator Ulrich Domröse in Berlin und T.O. Immisch in Halle, die sich mit den DDR Künstler*innen und Kunstwerken auskennen gehen jetzt alle in Rente. Damit verschwindet ein großer Fundus an Wissen und die Stellen werden mit einer neuen Generation besetzt, die dieses Wissen eventuell nicht mehr hat.

Anna Voswinckel: Wobei ich immer öfter mitbekomme, dass zunehmend jüngere Leute in der Kunstgeschichte zu DDR Künstler*innen wie Gabriele Stötzer forschen.

Silke Koch: Ja, ihr ja auch. Das fand ich schön und überraschend!
Der Abstand ist gut. Ich merke es auch an mir. So habe ich die (Corona) Zeit genutzt, um in meinem Fotoarchiv zu schauen, was ich neben dem Studium am Anfang parallel zu den Aufgaben fotografiert habe. Fünfundzwanzig Jahre später schaue ich auf diese Arbeiten anders als im Studium. Damals hätte ich sie nicht gezeigt, weil das zu nah an der Lebensrealität war, die ich eben kannte. Und wie gesagt, ich war begierig mir Neues zu erschließen. Jetzt ist dafür eine gute Zeit.