„Der Stoff waren unsere Leben.“ Ein Gespräch mit Gabriele Stötzer

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Von Anna Voswinckel, Elske Rosenfeld, Berlin, Juli 2020
Transkription und Edit: Elske Rosenfeld, 2021

Wir hatten im Sommer 2020 die Gelegenheit, Gabriele Stötzer während ihres mehrmonatigen Arbeitsaufenthaltes am Berliner Wannsee zu besuchen und haben dort mit ihr über ihre künstlerische und literarische Arbeit – und deren Wahrnehmung – vor und nach 1989 gesprochen. Gabi Stötzer hat ihre besondere, kollektive performative und filmisch-fotografische Praxis in den 1980er Jahren in Erfurt entwickelt. Sie gründete dort 1984 auch die Erfurter Künstlerinnengruppe, die später unter anderem unter dem Namen Exterra XX Performances und Mode-Objekt-Schauen entwickelte und zeigte. Mitglieder der Gruppe gründeten 1990 das Erfurter Kunsthaus. Wir haben mit Gabi über diese verschiedenen Arbeitskontexte gesprochen, und darüber wie diese um und ab 1989 verschiedene Zyklen der Sichtbarkeit/ Unsichtbarkeit, durchliefen.

„Wir hatten etwas Höheres, wofür wir waren“: Künstlerinnengruppe und eigene Arbeiten vor 1989

Anna: Erzähl doch mal von den Anfängen der Künstlerinnengruppe. Wie habt ihr gearbeitet und eure Ideen entwickelt?

Gabi: Es ist gut zu sehen, wie wir als Künstlerinnengruppe gearbeitet haben. Der Stoff waren unsere Leben. Da war eine Frau, die war frisch verheiratet – total toll. Dann kam sie an mit blauen Augen. Also haben wir einen Filmteil gemacht, wo sie sich als geschlagene Frau dargestellt hat. Eine andere hatte eine Zwangsadoption. Sieh hat sich dann im Film mit einem Betttuch mit Luftballons dargestellt, die da rausfliegen. So haben wir Dinge immer gleich selbst umgesetzt, geheilt und uns selbst thematisiert. Das war eine große Arbeit, aber auch eine große Offenheit. Sich über sich selbst zu erheben und Abstand zu nehmen und ein künstlerisches Bild dafür zu finden. Nach einem halben Jahr waren die Dinge schon Stoff oder nach einem Monat.

Elske: Wie habt ihr das geschafft? Durch das gemeinsame Arbeiten?

Gabi: Durch Reden miteinander. Wir haben das eigentlich wie die Frauen im Westen angefangen: Der Körper ist mein Eigentum, es ist meine Projektionsfläche. Und mit dem Körper komme ich sehr schnell an das Wesen der Dinge, nämlich des Weiblichen, heran. Da gibt’s keine Mode, gibt’s keine Zeit. Es gibt einfach nur diese paar Gegenstände, die mich als Frau ausmachen. Daraus kann ich alles entwickeln. Einige hatte ich erst einmal als Modell: Verena [Kyselka], Monique [Förster], Claudia [Räther] und auch andere Frauen. Weil ich einfach zum Fotografieren Frauen brauchte. Aber daraus ist ein gemeinsamer Weg geworden, in dem sie sich selber künstlerisch profiliert haben.

Elske: Ist das eine klare Unterscheidung für dich, das ist meine Kunst und das ist die Arbeit mit der Frauengruppe? Du hast ja auch in der eigenen Arbeit  immer mit anderen Frauen gearbeitet. Wo machst du da den Unterschied fest?

Gabi: Bei den Frauengruppenfilmen war es so, dass jede Frau ihre eigenen Filmteil gemacht hat. Ich habe zwar gefilmt, aber jede hat ihren Teil gezeigt. Der erste Film in der Frauengruppe hieß Frauenträume. Meine Schwester hatte zwei Träume. Der eine war, dass sie fliegt und der andere war, dass sie Männer ermordet. Den ersten Traum haben wir in Frauenträume dargestellt und den zweiten in dem letzten Film, “Signale”. Wir haben uns immer überlegt, wie kann man das umsetzen, dass sie Männer erwürgt. Sie würgt dann einen Holzbalken. Jede Frau hatte ihren Teil, auch bei „Die Geister berühren“, der Erhöhung oder Erniedrigung. Wenn eine sagt, ich bin jede Nacht auf der schiefen Ebene, dann haben wir eine schiefe Ebene gesucht.

Elske: Und siehst du die Sachen als deine eigenen künstlerischen Arbeiten, die Frauenträume und die Signale? Oder ist das eine kollektive Autorenschaft?

Gabi: Ja, das ist die Frage. Ich glaube, dass ich damals immer alles als ich gesehen habe. Weil ich hatte die Materialien, Kamera, Schneidegerät und hab’s gemacht. Die anderen hatten das alles nicht. Ich dachte immer, ich führe das irgendwie. Aber heute sage ich auch nur noch, ich bin Mitbegründerin der Künstlerinnengruppe. Das finde ich gut, dass ich auch lernen muss. Dass ich von meinem Ding runterkomme. Sobald du die zweite und dritte ansprichst, bin ich auch nur Teil der Gruppe.

Die Frauengruppe kam dann immer an den Punkt, dass sich alle zerstritten hatten. Keine hat mit keiner geredet. Da hab ich gesagt, wir treffen uns jetzt nicht mehr als Gruppe. Dann hab ich erst mit der gefilmt, dann mit der gefilmt, mit der gefilmt. Dann hab ich alles zusammengeschnitten und alle eingeladen. Und dann kam: Aha, die ist ja scharf, die ist ja…. Dann haben sie gesehen, was die anderen gemacht haben. Da kam die Achtung wieder. Ich sage immer, wir hatten etwas Höheres, wofür wir waren. Dafür haben wir alles Niedrige überwunden.

Wir haben uns als Künstlerinnen-Gruppe getroffen, nicht als Frauengruppe. Wir haben selten auf die Kinder aufgepasst oder die Wohnung gemalert zusammen. Wir waren eigentlich asozial zueinander. Es ging nur um Kunst. Arbeiten am nächsten Auftritt.

Elske: Ab wann habt ihr euch mit Mode beschäftigt? Denn erst mal ging es ja immer darum, sich auszuziehen und mit dem Körper an sich zu arbeiten. Aber das mit diesen Modearbeiten fing auch schon vor 1989, oder?

Gabi: Das mit dem ausziehen und am Körper arbeiten begann 1981 mit den Künstlerinnen Cornelia Schleime und Heike Stephan. Beide Frauen, die ihre Kunst als Profession sahen, also auch an jede Grenzen gingen. Bei Heike haben wir gegenseitiges Aktzeichnen gemacht. Wir haben uns ausgezogen und sind vollkommen normal damit umgegangen. Die Gruppe wurde 1983 von der Stasi „liquidiert“, Heike ging nach Ostberlin, Cornelia nach Westberlin. Das mit der Mode-Objektshow begann 1984 mit der Gründung der Künstlerinnengruppe und 1988 mit deren ersten öffentlichen Mode-Objektshow..

Elske: Und wie ging das zusammen? Das ist einerseits dieses Ausziehen gibt und Zerschneiden der Sachen und andererseits das Anziehen?

Gabi: Hinterher ergibt sich aus allem eine interessante Frage. Es gibt kein Zerschneiden von Sachen, nur von Generationen und Freundesgruppen. Mit der ersten Gruppe, mit der ich auch eine Privatgalerie und Pleinairs organisiert habe, ging es auch um den nackten Körper als Kunstobjekt. Das sind die knallharten Sachen, die meine Kunst sind. Die andere Gruppe hat sich nicht mehr so ohne weiteres ausgezogen. Es war so, dass wir Frauen Spaß miteinander hatten. Wir haben miteinander gelacht und uns verkleidet. Wir haben uns miteinander das gestattet, was Frauen gerne machen. Über sich herziehen, miteinander frech sein, miteinander aufzutreten, als Gruppe stark sein, unverschämt. Mal eine Traumfrau, mal eine Kaiserin, mal eine Bettlerin. Wir haben verschiedene Rollen miteinander entwickelt. Außerhalb von unserer Existenz, außerhalb von dem Normalen. Sobald etwas außerhalb war, war es Kunst und auch gleich politische Kunst, weil es in einer Gruppe existiert, weil es individuell war, weil wir auf das ich, das es auch nicht geben durfte, gingen. Und die erste Mode-Objektshow haben wir 1988 gemacht, im Augustinerkloster, wo der Propst Falke festgestellt hat, dass die Bibel von Frauen anders interpretiert wird als von Männern. Er hat dann drei Tage bei dem Kirchentag 1988 das ganze Augustinerkloster, wo Martin Luther studiert hat, mit seinen ganzen Räumen, der Kirche und so weiter zur Verfügung gestellt für Frauen. Es gab Frauengottesdienste. Wir haben eine Aktionsmalerei gemacht, das kann man noch männlich nennen. Aber dann haben wir auch gesagt, okay, wir machen eine Mode-Objektshow. Das war dann unser Durchbruch, denn mit Mode kriegst du die meisten Frauen. Ich hab sogar eine Anzeige in einer Zeitung gemacht: Welche Frau näht ihr Traumkleid und trägt es vor? Daraufhin hatten wir 20 Frauen. Für einen Traum bist du nicht verantwortlich, aber ein Traum ist auch was schöneres. Du bist schöner, größer, usw. Es ist eine den Körper und das Bewusstsein und die Zeit erweiternde Aktion. Es ging in den Traum, in die Vision, in unterschiedliche Bilder, ja unterschiedliche Existenzen. Im Osten durftest du deine Arbeit nicht wechseln. Da warst du halb asozial, wenn du mal drei Arbeitsstellen hattest. Das war noch die Generation unserer Mütter: eine Ehe. Das haben wir alles aufgebrochen, indem wir uns vielgestaltig gesehen und dargestellt haben. Das Mode-Ding war ein Erfolg, auch in der Stadt, so dass wir jedes Jahr weiter Mode gemacht und dann aus der Mode auch Kunst gemacht haben.

„Wir standen vor den Nichts.“ Wendezeit, Kunsthaus Erfurt

Anna: Und wie ist das dann ab 1990 weitergegangen?

Gabi:Nach der Wende habe ich noch das Kunsthaus aufgebaut mit Verena und den anderen Frauen. Mit der Künstlergruppe haben wir Mode- und Objektshows gemacht und Performances. Zur Ausstellungseröffnung eigener Ausstellungen haben wir immer eine Performance gemacht, die bezahlt wurde. Wir als Künstlerinnen wurden nicht bezahlt, aber das Geld für die Performance haben wir dann gespart für das Kunsthaus. Wir bekamen Unterstützung und Geld aus dem Westen. Wir hatten ein Auto, sogar einen Mercedes, und fuhren dann immer zu irgendwelchen Veranstaltungen.

Ich hatte vorher schon 10.000 Euro von Christa Wolf als Spende gekriegt, und hatte 10.000 von einem Auftritt mit Wolf Biermann, den ich organisiert hatte, und 10.000 haben wir selber verdient. Und dadurch hatten wir 30.000 Eigengeld, was damals keine der alternativen Gruppen hatte. Wir waren das einzige von den vielen besetzten alternativen Zentren in Erfurt, das dann praktisch das Haus kaufen konnte. Erst wenn es dein Eigentum war, konntest du weiteres Geld kriegen, um das auszubauen. Das ist über Jahre hingegangen.

Dann haben wir uns zerstritten. Auf einer Fahrt in den Westen fragte einer: wie lange gibt es eure Gruppe? Und bist du der Kopf? Er sagte, wenn der Feind von außen weggeht, dann fangt ihr innen an und du bist die erste, die fliegt. Und kurz darauf war ich weg.

Elske: Hatte das Auseinanderbrechen eurer Gruppe etwas mit dem Ende der DDR und dem Auseinanderbrechen dieses Kontextes zu tun?

Gabi: Es hatte mit Angst zu tun, mit Existenzangst. Es wusste ja keiner, wie uns der Westen aufnimmt. Wir waren ja wie Bettler. Eine von uns sagte damals sogar: Ich muss auf den Strich gehen, ich kann ja nichts für den Westen. Wir wussten nicht, wie der Westen ist, oder dass der Westen uns Westgeld geben würde, damit wir auch Westartikel kaufen – damit wir für sie nutzbar werden als Kunden. Wir standen vor dem Nichts und es kam pure Existenzangst auf. Es gab alleinerziehende Mütter mit Kindern, die dann das Café gemacht haben. Und andere hatten ABM-Stellen; ich hatte auch mal eine. Es war auch kein Interesse mehr da Mode zu machen, denn die gab es nun billig zu kaufen. Die Leute haben nicht mehr genäht, weil du viel billiger eine Jeans kaufen konntest oder was Schickes aus dem Westen.

Eine Revolution im Westen: Literarischer Höhenflug um 1989

Elske: Gleichzeitig gab es aber in Zeit um 1989 zumindest für eine kurze Zeit dieses große westdeutsche Interesse für den Osten.

Gabi:Aber nur in der Literatur, nicht in der Kunst.

Elske: Ja, ich weiß gar nicht, wie bei dir das Verhältnis zwischen literarischer Arbeit und künstlerischer Arbeit damals war. Hast du dich mehr als Schreiberin verstanden oder mehr als Künstlerin?

Gabi: Naja, das sind so Zeiten. Ich wusste immer genau, das ist ein Text, das ist ein Foto. Das ist eine Zeichnung. Es will ja gezeichnet werden, oder? Es will ja geschrieben werden. Wenn du eine Inspiration kriegst. Und ich wusste immer genau, was was ist. Ich hatte nie eine Frage. Das war nur ein Foto. Und das war nur ein Text. So ging das durch.

Anna: Aber die Literatur hat dann mehr Aufmerksamkeit aus dem Westen bekommen?

Gabi: Ich bin 1989 noch von Helga Schubert, die jetzt 2020 mit 80 Jahren den Bachmannpreis bekommen hat, zum Ingeborg-Bachmann-Preis vorgeschlagen worden. Im Juni, wo noch keiner wusste, dass es die DDR in vier Monaten schon gar nicht mehr gibt. Das war der Höhepunkt meiner literarischen Entwicklung. Es war die Zeit, wo die Literatur eine eigene Bedeutung hatte. Ich weiß auch, warum das damals so war und jetzt nicht mehr so ist. Es war so dass wir aus der DDR im Schreiben diese offizielle deutsche Sprache gar nicht mehr benutzt haben. Es war eine Art Sklaven- und Parteisprache. Es gab diesen sozialistischen Realismus in der Kunst und in der Literatur. Wir standen so weit außerhalb dieser Machtstruktur, dass wir eigentlich alles selber gemacht haben. Wir haben experimentelle Strukturen entwickelt, in denen ich sagen konnte, was wehtut. Der Schmerz, die Unterdrückung der Frau, der Knast, worüber keiner sprach. Es gab eine ganze Gruppe, die so gearbeitet hat – die experimentellen Schriftsteller der Prenzlauerberg-Szene. Und wir haben Untergrundlesungen bei z.B. Ekkehard Maaß gemacht. Da kamen dann auch Leute wie ich, die im Knast gewesen waren oder die nicht arbeiteten oder die nicht in der Partei waren, die nicht studiert oder irgendetwas vorzuweisen hatten. Die also nicht in den Schriftstellerverband kamen. Unsere Lesemöglichkeiten waren nur bei der Kirche oder in Wohnungen. Die Wohnung von Ekkehard Maaß war zu der Zeit ein sehr bekannter Ort, wo ganz viele Leute gelesen haben. Da kamen auch Leute, die schon im Künstlerverband waren, die also eine Lobby hatten. Das war wichtig, weil meistens vorher oder hinterher die Stasi draußen stand und du den Ausweis zeigen musstest. Es war immer unwahrscheinlich hart und konfrontativ. Aber dass die nicht reinkamen, das haben die Leute vom Verband geschafft – Gerhard Wolf, Adolf Endler und Elke Erb. Sie haben uns letztendlich beschützt. Sie haben das dann auch nach außen gebracht, denn sie hatten die Connections zu den Westverlagen. Aus dieser ganzen Untergrundlesereihe ist dann ein Buch bei Kiepenheuer und Witsch entstanden: Berührung ist nur eine Randerscheinung ­– das haben Elke Erb und Sascha Anderson herausgegeben. Das war für die im Westen ein totaler Schock. Der westliche Markt funktioniert so: jedes Jahr gibt’s den sanften Lyriker oder die sanfte Lyrikerin und die ist dann überall und kriegt die Preise. Und nächstes Jahr gibt’s dann das nächste. Und plötzlich war da eine ganze Gruppe von revoltierenden, unflätigen Leuten, die keine Scham hatten in der Sprache – das war eine Revolution auch im Westen. Daraufhin hat der Aufbau-Verlag uns alle eingeladen und gesagt, wir machen ein Buch, eine Anthologie –allerdings nur von Leuten, die keinen Ausreiseantrag gestellt haben. Wir haben gesagt, wir machen keine Anthologie mehr, wir wollen jeder ein eigenes Buch haben. So ist die Reihe entstanden, Ausser der Reihe, von Gerhard Wolf herausgegeben. So habe ich auch mein erstes eigenes Buch zügel los bekommen. Es war eine Zeit, wo es kribbelte, wo der Westen von uns Bescheid wusste; wo aber die Hälfte dieser Leute auch in den Westen gegangen sind. Und so sind die Leute plötzlich auf mich aufmerksam geworden, durch meine Art des weiblichen Schreibens, aber auch durch die Klarheit und Direktheit.

Helga Schubert hat mich dann also nach Klagenfurt eingeladen und dort hab ich einen Text gelesen, der gegen den Staat ging, der alles beherrschen wollte, gegen meinen Vater, der geschwiegen hat, auch im Zweiten Weltkrieg war, und gegen meinen Ehemann, der mich betrogen hatte. In der Zeit hatten gerade einige aus dem Osten den Bachmann-Preis bekommen: Katja Lange-Müller, Wolfgang Hilbig. Also kam ich da an und dachte mein Preis ist mir sicher. Als ich fertig war zu lesen, hat Helmuth Karasek gesagt, das ist ein feministischer Text, das hat in der Literatur nichts zu suchen und ich werde dafür sorgen, dass Sie aus der Literatur verschwinden. Karl Corino nannte es ein feministisches Traktat. Das war 1989 im Juni. Danach hat mich niemand mehr angeguckt. Aber Frauen auf der Toilette haben mich angesprochen, hinter Büschen. Toll, was du sagst.

Nach der Wende haben sie dann im Westen gesagt: Wir können ja in den Osten fahren, was sollen wir uns jetzt noch Ost-Bücher kaufen. Nur ist keiner von denen in den Osten gefahren. Wieso soll man den Osten kennenlernen. Den gibt’s doch nicht mehr. Und damit gab’s uns auch nicht mehr. Keines meiner 8 Nachwendebücher wurde wirklich ein Erfolg oder trug sich. Auch nicht Bröckelnde Festung, eines der ersten Bücher über Hoheneck, dem Frauenknast. In Thüringen gab es noch viele alte Kader in der Literatur, die an der Uni oder Dozenten waren, und die IMs (Innoffizielle Mitarbeiter der Stasi) waren. Die mussten die öffentlichen Einrichtungen verlassen. Sie haben sich dann selbstständig gemacht und eine Zeitschrift gegründet. Da kam ich überhaupt nicht hoch. Als der Cornelsen Verlag 1995 eine dreibändige Anthologie über ost- und westdeutscher Schriftsteller herausgab, als „Beitrag zur geistig-kulturellen Einheit in Deutschland“, nahmen sie mein Buch Erfurter Roulette und haben mir gesagt: Du bist die einzige Ehrliche aus dieser ganzen Literaturclique. Dann haben sich die ganzen Verbandskünstler in der Literatur zusammengetan und haben gesagt, die da von Fotze und Ficken schreibt, das soll Literatur sein? Karasek hat mich als Feministin aus der Literaturszene rausgeschmissen. Und in Thüringen bin ich überall komplett rausgeflogen.

„1989 bin ich als Künstlerin gestorben“: Unsichtbarkeit und neues Interesse

Elske: Und hast du dann weiter Kunst gemacht? Ist es einfach nur nicht wahrgenommen worden nach 1989?

Gabi: Es ist nicht gebraucht worden.

Erst war da der Streit mit der Künstlerinnengruppe, dann wurde ich literarisch ausgeschlossen. Da bin ich nach Holland gegangen und war da 22 Jahre. Dort hatte ich weder einen Webstuhl, noch ein Fotolabor, noch irgendwas. Ich habe angefangen, die Keramik, die ich früher auch selber gemacht hatte, von Ikea zu kaufen. Ich kannte eine deutsche Keramikern, da hab ich die bemalt und gebrannt. Später habe ich selber Aufbaukeramik gemacht, die sprechenden Schlangen und die Engelserie. Ich hatte schon in Erfurt mit Keramik gearbeitet. Es gab ja viele Keramikerinnen, die sich auch gut verkauft haben auf den Märkten. Die konnten in der DDR nicht arbeiten und hatten eine Preisgenehmigung, wie ich auch. Wir haben Web-Sachen verkauft und andere Sachen und sind uns da immer begegnet.

Aber das wird nicht als Kunst wahrgenommen – vor allem das, was ich in Holland gemacht habe. Selbst heute sind Kuratorinnen nur interessiert an dem, was ich bis 1989 gemacht habe. Danach bin ich eigentlich für die Leute gestorben. Ich bin tot. 1989 bin ich gestorben als Künstlerin, weil alles, was ich danach mache, kein Schwein mehr interessiert hat.

Anna: Wann kam das Interesse an deiner Arbeit denn wieder?

Das Interesse fing erst 2009 an, mit Beatrice Stammer und dem feministischen Projekt re.act feminism, ein Performance-Archiv über osteuropäische und westliche Performerinnen. Da bin ich in einen anderen Zusammenhang gekommen, weg von der Ost-Primel. Den Osten gab es ja damals gar nicht. Dann kam AfD, dann kam Pegida. Da kam plötzlich die Idee auf, wir müssen den DDR-Leuten doch eine Vergangenheit geben. Plötzlich gab’s Geld für etwas, was es eigentlich nicht mehr gab, nun aber doch gab. Das ist so ein komisches Ding, denn natürlich bin ich dagegen. Aber wenn es AfD und Pegida nicht gegeben hätte, gäb es mich heute hier nicht.

Elske: Das ist leider das Bittere, dass es das brauchte, um das DDR-Thema wieder interessant zu machen. Wie ist das jetzt für dich, dass du plötzlich so gefragt bist und das alles nochmal erzählen musst? Ist das für dich auch ein Wiedereintauchen oder warst du die ganze Zeit eigentlich dran an dem Thema deiner DDR-Zeit?

Gabi: Das hier wird eine gute Geschichte, weil ihr gute Zuhörer seid. Aber wenn ihr nichts wissen wolltet, dann hätte ich auch nichts zu erzählen. Das Ohr des Zuhörers öffnet meine Lippen. Ich gebe euch die Geschichte, so wie ich euch die Fotos gebe. Andere, die nichts erlebt haben, haben keine Geschichte. Das ist das Tragische an den Geschichten, dass sie erst einmal gelebt werden müssen.

>>Die Arbeit von Gabriele Stötzer und der Künstlerinnengruppe Erfurt ist Ende 2021 Gegenstand der AusstellungHosen haben Röcke an. Künstlerinnengruppe Erfurt (1984-1994)” in der ngbk.